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Ferienouvertüre in G-Dur.

Meine 7(00) Sachen liegen zusammengerollt im Koffer und warten auf die morgige Abfahrt. Einmal Deutschland durchqueren um der Familie "Bonjour" zu sagen und dann, wieder einmal quer durch das Land, um in Marseille Wein am Hafen zu trinken. Gebührende Abschlussfeier nun in der Bar du Marché, dem Café um die Ecke, in welchem die Kellner verschmitzt in ihren Latzhosen lächeln. Es ist Ende Juli und die Terrasse ist nur zur Hälfte gefüllt. Das Klientel besteht zu 95% aus Touristen aus aller Herren Länder, die hungrig in frisches Baguette beissen und sich dem "Je ne sais quoi" hingeben. Ein Pariser Einwohner sitzt schräg von mir in der Ecke, über seinem Kreuzworträtsel und popelt in der Nase. Vor ihm ein Allongé.

Um den ersten Juli herum schaute ich auf diese Seite und sagte zu mir : "Ach, vier Wochen ist es schon her!" und schrieb in den Kalender: Nach Ankunft in Paris, Blog. Am Abend des Nationalfeiertages, auf dem Weg nach Hause nach dem Feuerwerk, wollte ich von den unbeständigen Gefühlen erzählen, die mich beim Anblick der funken-farbensprühenden Himmelsbilder packten. Doch es ging nicht. Von der Arbeit unter die Arme genommen, sauste ich quer durch die Gegend. In den Süden. Durch Regiezelte hindurch. Hinter Bildschirmen. Und plapperte. Und werkelte. Und durchwelzte Notenblätter und arabische Gedichte. Pause? Denkste. Die Ergebnisse betrachtend, bin ich aber sehr zufrieden und schmunzele beim Anblick der Bilder. Buena Vistas Social Club, Titi Robin, Festival lyrique d'Aix en Provence, Arles und der Fahrt auf den Meije, einem Gletscher im französischen Niemandsland… Alles war Aufregung, Spannung und schrie nach Energie und Kreativität. Ich wollte immer eine jener Berufstätigen sein, die durch die Strassen sputen und nie wissen, wie ihr nächster Monat aussieht. Das ist passiert und, nach einer überstandenen Saison, kann ich sagen, das ich verrückt danach bin. Nervenkitzel, Spontaneität, das Licht geht im Saal aus, der Vorspann wird abgeschickt und es geht los… Stunden voller unerwarteter Dinge.

Um aber nicht komplett durchzutippen und zu telefonieren, zog es mich, wie so viele Theaterlustige, nach Avignon. Oh oui! Vor dem Vorhang sitzen. Quel luxe! Das Festival d'Avignon ist mein persönliches Mekka. Mein eigenes Cannes. Schon Wochen vorher ist die Festivalseite die bei mir am häufigsten täglich aufgerufene Seite und ich klicke mich durch die Namen und das In-Programm. Denn, neben der vielfältigen Offerte des Off, braucht es eine Veranstaltung eines angehimmelten oder von der Presse kritisierten Regisseurs. Da es keine Plätze mehr für Ostermeiers "Richard III" gab (und mir die Ideen ausgingen um an eine Karte zu kommen. Und glaubt mir, vom Mithineinschmuggeln durch mein Arte-T-Shirt oder dem Handtaschendiebstahl eines Besuchers gab mein Kopf eine Menge her!), nahm ich mit "King Lear" von Olivier Py vorlieb. In der Cour d'honneur, auf dieser riesigen Bühne, gaben seine Schauspieler alles; brüllten es sich aus der Seele. Die Folie in alle Richtungen gezerrt, beschmutzt, gefeiert. Über drei Stunden lang kicherte oder rutschte ich auf meinem Stuhl hin-und her. Zeitweise packte mich der überschwengliche Eifer der Geschichte, wehte die Dramatik meine Locken auf. Dann wieder gab es Momente da hatte ich das Gefühl mit beiden Füssen im Schlamm festzustecken. Was passierte da auf der Bühne? Ich hatte keine Ahnung. Nach einem langen, applaudierten und verschwitztem Tag (in der Woche übertraf sich die Sonne), waren Py's Gedankengänge zu verstrickt. Dabei wollte ich so gerne dahinter kommen. Erst Tage später klärte sich der Nebel auf und ich "verstand" den Werdegang der Folie.

Es lohnt sich während des Festivals durch die Strassen Avignons zu laufen. Sich Flyer zustecken zu lassen, mit den Schauspielern zu reden, zu erfahren was sie und wie lange schon hierher treibt, warum sie gerade jene Stücke auswählen etc. Manche geben Kostproben auf den Plätzen, wieder andere haben durcheinander gewirbelte Kostüme. Stücke werden in Garagen, Einkaufsstrassen und Läden zum Besten gegeben. Alles wird zur Bühne. Die Stadt zu einem riesigen Werbeplakat. Nur die Zeit, die rennt als würde sie sich auf die Tour de France vorbereiten (und das ohne pudriges Hilfsmittel). Und so sieht man vier/fünf Stücke, um dann müde auf der Autorückbank einzuschlafen, währenddessen sich der Gurt in die Haut einarbeitet (dagegen sollte wirklich mal etwas erfunden werden).

Theatrig ging es also durch den Juni und Juli. Den wunderbaren "Liliom", inszeniert von Jean Bellorini, gesehen und wie in Trance gewesen. Als wäre man allein im Saal, als einziges Gegenüber eine naive Geschichte. Gestalten, die ihr Leben verträumen und das Geld von all ihren Ideen abhängig machen – und versagen. Ein Stück, das bis auf die letzte Silbe ins Feinste ausgearbeitet ist. Jedes Element befindet sich an seinem Punkt. Kein Satz ist vorhersehbar. Da kann man am Ende nur aufstehen und applaudieren.

Der Sommerschlussverkauf hatte mich gepackt. Von den ganzen Aufnahmen überwältigt, hatte ich zwar keine Zeit durch die Geschäfte zu schlendern und musste die Auswahl dem Internetschicksal und meinen Augen überlassen, jedoch lassen sich die Früchte wirklich sehen. Farbenexplosion im Kleider-und Schuhschrank. Gezwungen aufzuräumen und Kleiderbügel zu besorgen. Die Folie hatte also meinen Geldbeutel und mich gepackt. Ausreden wie "Na, ich arbeite auch hart", "Es ist ja nur einmal im Jahr", lasse ich schon seit geraumer Zeit unter den Tisch fallen. Steh dazu, dass du dich gerne schön anziehst und basta.

Der Nationalfeiertag. Die Flugzeuge rauschten am Vormittag laut durch Paris (so wie Fitzgerald es gesagt hat: von Westen nach Osten) und am Abend knallte es am Sternenhimmel. Auf den Pont des Arts stehend (Wer hätte gedacht, dass man von dort wirklich und gut das Feuerwerk sehen kann?), schaute ich es mir an. Wie jedes Jahr. Und wie jedesmal werde ich dabei emotional, sensibel, gefühlsduselig, sentimental, kitschig. Und wie jedesmal rast die verbachte Zeit in dieser Stadt an mir vorbei, Erfahrungen, Gesichter, Geschichten, Anekdoten, singend auf dem Metrosteig stehend, Küsse in einer Jazzbar, Absatzschuhe in Montmartre, Einschreiben an der Uni, barfuss Baguette in einer Boulangerie im 16.Arrondissement kaufen… Und wie jedesmal fühle ich mich darin bestätigt. In meiner Wahl. Denn es braucht nichts mehr als einen Willen. Einen willigen Traum. Ein spontaner Einfall und einen Dickkopf… um dann, acht Jahre später, teetrinkend in der Bar du Marché zu sitzen und dem Kellner "A demain" zu sagen.

Nun wünsche ich euch einen fabulösen restlichen, reisefesten und sonnigfrohen Sommer. Geniesst die Ausblicke, das ausgeschaltete Telefon, das Hoffen auf Postkarten bei eurer Wiederkehr und die clins d'œil…

Bis zur rentrée mit frischen Topfpflanzen, einem Fotoapparat voller Bilder und der Herbstneugier!


Il était une fois ...

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