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Ein Wetterbericht.

Jetzt wird es aber allerhöchste Eisenbahn, mit quietschenden Reifen und einem unruhigen Zugführer. "Wirds bald junges Fräulein?" Schon über einen Monat ist der letzte Eintrag her; berichtete vom Schwarzteeregen in London. Nun, vier Wochen später, muss ich mich nicht mehr in gelb anziehen, um ein sonniges Gefühl in mir auszulösen. Nein, tatsächlich reicht es die Nase in die Luft zu halten und den Frühling einzuatmen. Mit Applaus und Getöse.

Wie war nun der kalte letzte Monat? Wenn ich so in den Kalender blicke, sind die letzten vier Seiten vollgeschmiert, durchgestrichen, berichtigt und mit Theaterkarten überklebt. Kurz ging es nach Deutschland, um die Lieben zu umarmen. Wieder zurück schnell in einen roten Sitz des Théâtre de l'Odeon gequetscht, um ein Schweizer Stück "Das Weiße vom Ei" zu verfolgen. Ich sage bewusst nicht genießen, denn es war stockend. Nicht langweilig, aber träge. Und erinnerte an all die Klischees, die man so über das neutrale Land hört: Alles, jeder Satz, jede Geste, folgten einer durchchoreografierten Logik. Keine Panik, nichts Unerwartetes sprang unter dem Tisch hervor oder brachte die Wände zum Wackeln. Es war daher nett und brav, jedoch fehlte das Knacken der Tobleronestücke (wenn ihr versteht, was ich meine). Um Wiedergutmachung bei meiner Begleitung zu leisten, ging es am Abend Falafel schmausen. In Paris kann man kulinarisch nun wirklich eine Weltreise antreten! Der Mexikaner gibt seine gepfefferte Hand dem Franzosen, der schmackhafte Araber winkt dem Thailänder zu. Wäre Politik nur so diplomatisch offen wie die kulinarischen Gerüche im Quartier St. Michel...

Ein paar Tage später packte ich Mütze und Regenjacke ein, um ins belgische Mons zu fahren. Diese Stadt (in diesem Jahr ist sie Kulturhauptstadt Europas), ist so schnieke-schick, dass man sich wünscht, eine Wohnung in der Nähe des Marktplatzes zu haben, um vom Fenster aus Wollpullover zu stricken. In einem kleinen italienischen Bistro tänzelte der Oberkellner mit neonblauen Haargummi mit den Tellern in der Hand. Ein paar Stunden später hatte ich, und das ist viel wichtiger als Cannelloni, die Freude ein weiteres Werk des Regisseurs Fabrice Murgia zu sehen. Zu erleben wie die Schauspielerin Viviane De Muynck mit tiefer und emotionserzürnter Stimme den Saal erfüllte, war der Höhepunkt. "Children of Nowhere", der Name des Stückes, zog mich in den Bann, ließ mir keinen Augenblick Zeit für einen Wimpernschlag. Es war wunderbar.

Seitdem wurde gearbeitet und der Eintritt in den April nur vage mitbekommen. Ein Monat zwischen regnerischen Gedanken und lachenden Sonnenstrahlen liegt hinter mir. Doch, so unbeständig wie man das Wetter im vierten Monat des Jahres erklärt, gestalten sich auch die Apriltage. Ganz verblüfft von den fast 20 Grad, erlebe und sehe ich großartige Dinge, vor und hinter der Bühne. Die neue Philharmonie hat mich in den letzten Wochen jeden Tag beansprucht und ich glaube, sie mittlerweile zur Hälfte auswendig zu kennen. Dieser wunderschöne Saal, das wellenartige Gebäude - Hundertwasser hätte wirklich seinen Spaß daran gehabt. Man betritt den Flur und fühlt sich musikalisch. Zwei fantastische Bachkonzerte mit Sir John Eliot Gardiner und René Jacobs verbracht. Die Hoffnung, dass dieser neue Saal eine hohe Personenzahl beeindrucken wird. Von außen sieht es gewiss aus wie ein Hexenhaus an dem Disney seine Freude haben könnte. Aber dieser fantasievolle, bunte Raum. Herrlich!

Um meine Odeonreise weiterzuführen, habe ich gleich noch zwei Stücke in den letzten zwei Wochen gesehen. Denn es ist so: dieses Theater ist wirklich eine sichere Adresse. Qualitativ und überraschend wie jeder Sprung auf einem Trampolin. Selbst wenn es hin-und wieder etwas quietscht, kann man trotz allem von der spielierischen Leistung begeistert sein. Die moralisch schwermütigen Themen nahmen Platz in meinem Theaterkalender, angeführt von Handkes "Toujours la tempête" und Bondys "Ivanov". So unbeständig wie das Wetter im April waren die Gemütslagen auf der Bühne. Ersteres Stück führte zu einer Begegnung zwischen Präsenz und Vergangenheit. Der mitteljunge Erzähler begegnet seiner verstorbenen Familie und lässt sie ihre Geschichte erzählen. Wie sie, umgeben von Äpfelbäumen, in Osteuropa gegen die Nazis ankämpften, um ihre Sprache und Autonomie rangen, gewannen und gleichzeitig verloren. Niemand scherte sich mehr um diese verlassenen Völker. Sie zerbrachen in Tundra und Steppe, in Worte ohne Sinnklang. Im Inneren hörte man ihre schweren Kleider auf dem Holzboden, wiegend zu knarrenden Violinen, die schluchzen.

In "Ivanov" schien es als hätte der Hauptdarsteller mit der depressiven Stimme und den langen Fingern, die Lasten der Welt auf seine Schultern gepackt. Sein Glück hatte die Augen zugemacht und seine Solidarität war in den Dornröschenschlaf gefallen. Wie ein lahmer Werwolf tobte sein verlorenes Ich durch die existierende Welt und konnte keine Rücksicht mehr nehmen. Er scheint seine Welt mit sich zu ziehen oder sie nicht von sich loszubekommen. Alles wird ihm lästig - bis er dem ein Ende setzt. Doch war genau der Auslöser dafür ein wenig seltsam. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob es sich um eine Verzweiflungstat handelte oder um das Aufladen seines Selbstmordes auf den Buckel des jungen Arztes, der von Anfang an gegen ihn witterte. Somit wäre er genau das gewesen, was letzter hinausgebrüllt hatte : ein salaud. Ein Dreckskerl.


Um meiner Theaterseele aber nicht das Trauertuch umzulegen, hat sich die Sonne nun schon seit einer Woche dazu ermüßigt ihr Bestes zu geben. Das lässt die Gedanken leichter werden oder beim ersten Eis des Jahres abkühlen. Damit das Vertrauen in die Menschheit aufrecht gehalten und bei offenen Fenstern Luft durch die Haare strömt, damit mit Freude über die gesehenen Stücke getippt werden kann. Denn nichts vermag den Einblick in abgrundtief schwarze Tränen und Charaktere so zu beruhigen, wie ein paar Sonnenstrahlen.


In diesem Sinne genießt ihn, den Monsieur printemps!




Il était une fois ...

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