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Die Bedeutung eines Personalpronomens.

Am Morgen des Neujahrtages räumte sie ihr schwingendes Kleid in den Schrank zurück. In den Ohren klangen noch die zaghaften und vollen Stimmen des American in Paris nach. Die Sonnenstrahlen sammelten die Eiskristalle auf und ließen sie ein heißes Bad nehmen.

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Es ging hinaus. In eine Märchenwelt. Da, wo Akrobaten auf den Champs-Elysées tanzten, es nach Merguez und Glühwein roch und sich zahlreiche Neugierige am Grand Palais anstellten, um die Nikki de Saint Phalle – Ausstellung zu bewundern. Sich in molligen Frauengestalten und starken Farben verlieren. Das Herz und sie zogen es aber vor weiter spazieren zu gehen. Mit der Sonne um die Wette und vor dem Wind davon zu laufen. Über Weihnachten zu sprechen. Die Augen durch Reisepläne zu wecken. Plötzlich rief sie auf: „Oh, ein Schokoladenboot!“. Sie nahmen auf einem kleinen Schiff Platz, draußen an Deck.

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Die Nase war hin-und hergerissen. Worauf sollte sie sich konzentrieren? Auf die winterliche Kälte, das Erhaschen der warmen Kugel oder dem zimtigen Duft, der aus der Tasse kam? Sie, die Besitzerin des knubbeligen Zinkens, fragte nach der Geschichte der schwimmenden süßen Verführung. Die Besitzerin erzählte von ihrem Auf-der-Seine-Schippern und dem genussvollen Versuch, Teil des Quai-Ambientes zu sein. Das Herz, ihre Hände frohlockten, versprachen wiederzukommen und den Namen des Bateau chocolaté an andere Ohren weiterzugeben.

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Die Tage vergingen. Sie wurden mit Arbeit bedeckt, auf die sich der Enthusiasmus stürzte. Hin-und wieder ein Glas Wein, ein paar Seiten japanische Erzählungen des Yasunari Kawabata, viele Zugfahrten, Gefühlschaos betreffend des Winterschlussverkaufes, ein Swing-Brunch in der Bellevilloise, dem Appetit und musikalische Gelüste applaudierten.

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Und dann?

Vor ein paar Jahren war ich in einer Ausstellung im Hôtel de la Monnaie. Ein ehemaliger Kriegsjournalist hatte Bilder von Paris bearbeitet und diese in eine Landschaft aus Bombenattacken, vorhandener Ignoranz und Waffen umgewandelt. Diese Collagen hielten mir vor Augen, wie weit solches Unheil, wohl in diversen Ländern Bestandteil des Alltags, vielen von uns fremd vorkommt. Wir lesen darüber im Auslandsteil der Zeitung oder hören davon im Radio. Wir sprechen ein paar Tage darüber und dann lassen wir uns vom hiesigen Alltag einnehmen.

Ich habe lange überlegt, ob ich mich zu Charlie Hebdo äußere. Mir schien die Informations-und Wortquelle wie eine Flut und ich fragte mich, wie Zungen so schnell eine Meinung äußern können. Mein Sprachzentrum war still. Es konnte nichts formulieren. Der Kopf starrte vor sich hin, die Schlagzeilen machten mich müde. Pegida, Legida, Charlie Hebdo, Anschläge in Afrika, verlassene Schiffe – dies alles ist so schnell zur tatsächlichen Realität geworden, dass man sich wünschte, Rübezahl käme aus dem Erzgebirge daher und verpasste allen einen gehörigen Tritt. Ich bin sprachlos wütend. Über so viele Aspekte und falsche Argumente. Das jemand glaubt mit Waffen Menschen mundtot zu machen, die sich einer noblen Ausdrucksform bedienen oder einfach nur Quark kaufen wollen; das sich so viele Menschen über Religion und Nationalität streiten, als hätte uns die Zeitmaschine ins tiefste Mittelalter verschleppt; dass Menschen durch Maschinen ersetzt werden; dass technische Geräte jeden Esstisch beherrschen; dass Namen wie Schlagzeilen benutzt werden; dass der Tod zum Marketingprodukt gemacht worden ist; das dieses verdammte Geld als Rettungsanker gesehen wird… Wir haben einen Kabelsalat geschaffen, der es uns zwar erlaubt, überall und jederzeit Nonsens-Status abzugeben oder abzurufen, aber nicht mehr den Überblick zu behalten. Menschen, die also auf die Straße gehen und sich gegeneinander auflehnen, wollen sie zu den Anfängen zurück? Und zu welchen? Wenn wir materiell, finanziell, intellektuell unabhängig sein wollen, gehört es dann nicht dazu sich auch sozial zu öffnen? Oder brauchen wir Schlüssel, die uns den Eintritt erlauben? Haben wir vor lauter Individualität vergessen, gemeinsam zu sein? Vielleicht müssen viele von uns erst Grenzen zu spüren bekommen, bevor sie sie eigenhändig abreißen wollen. Zudem scheinen viele unserer gesättigten Mitbürger verlernt zu haben, ihren Brotsamen zu teilen und sind dazu auch noch zur diebischen Elster geworden.

Gemeinsam sein. Können wir von jedem Land, jeder Religion, jeder sozialen Gruppe, jedem Individuum erwarten mit auf das Boot zu springen, sich in eine Kabine zu setzen und ein weiteres Ruder in die Hand zu nehmen? Sollten wir, dem ethischen Pfad folgend, nicht einfach respektvoll jedem gegenübertreten und ihn sein lassen? Ja! Um jedoch nicht Millionen von kleinen Inseln zu schaffen, gibt es Regeln. Werte meinetwegen. Diese haben sich am Sonntag zum Aufmarsch in Paris gezeigt. Nicht nur der Franzose stand auf dem Place de la République. Administrative Beglaubigungen, religiöse Zugehörigkeit – sie spielten keine Rolle. Man war sich einig: Nichts und niemand rechtfertigt das Auslöschen von Menschenleben. Die Parolen, die Aufschriften, die Aufkleber…., sie nahmen unterschiedliche Themen in Angriff. Von Afrika über Charlie Hebdo, Putin und Palästina, Religion und Intoleranz.

Ich erachte diesen Menschenzug nicht als Gewinn über einen bedrohlichen Gegner. All jene, die pfeifend da standen und riefen: „Wir haben gewonnen!“, haben nichts verstanden. Es ging um ein Weiterdenken. Um die Frage: Wie kann man gemeinsam in einem solchen Komplex aus Differenzen zusammenleben? Wie Akzeptanz schaffen, wenn jedes Mal aufs Neue ein schwarzer Peter gesucht wird?

Es muss damit aufgehört werden, Euphorie und Solidarität zu heucheln oder nur dann zu entfachen, wenn die nächste Nähe betroffen ist.

Es muss damit aufgehört werden, Menschen im Namen eines XYZ abzuschlachten, die Nerven kaputt zu machen.

Es muss damit aufgehört werden, Grenzen und Nationalität als Argumente für eine sogenannte Krise aus dem Hut zu zaubern, wenn die eigenen Hände und Füße nicht mutig genug sind und der Kopf nicht mehr weiterdenkt.

Es muss damit aufgehört werden, von den „Anderen“, „den da oben“ gesprochen zu werden, wenn Verständnis doch nur durch Engagement geschaffen werden kann.

Es muss damit aufgehört werden alles zu Brei zu reden, zu verunglimpfen, zu zerstören. Wem es nicht passt, kann ja versuchen Mais auf dem Mars anzubauen.

Wir haben uns selbst ein Korsett angezogen. Es mit Federn und Perlen geschmückt. Wir lassen uns verleiten, ablenken, den Kopf waschen. Doch was „Wir“ bedeutet und wie man es schafft, das hat man vergessen, oder je verstanden?

Wollen wir ein eingeschränktes „Wir“ ?

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Il était une fois ...

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